In dieser Arbeit versuche ich, die Entwicklung des historischen Materialismus oder der materialistischen Geschichtsauffassung bei Marx und Engels auszuarbeiten und zu zeigen, wie er zu einer bedeutsamen eigenartigen Beschreibung und Analyse der Welt und einer neuen Art des Philosophierens wurde. Die Philosophie der Praxis, die später von Labriola beschrieben und von Gramsci übernommen und weiter ausgearbeitet wurde, baut auf dem historischen Materialismus auf und entwickelt diesen weiter (Haug 2006, 31ff). Der historische Materialismus bietet auch die Grundlage einer marxistischen Antwort darauf, ob die Emanzipation der Unterdrückten in der bürgerlichen Gesellschaft oder im Kommunismus möglich ist. Er ermöglicht ein umfassendes Verständnis von Arbeit, Verdinglichung, Klassenkampf, Emanzipation und der Rolle des Klassenbewusstseins. Indem der historische Materialismus die kapitalistische Gesellschaftsordnung mitsamt ihrer Ideologie durchleuchtet, ist er „infolge der Klassenlage des Proletariats ein Kampfmittel geworden“ (Lukács 1970, 358).
Wenn man die Marxsche Analyse in der „Kritik der politischen Ökonomie“ (Das Kapital) im allgemeinen Sinne verstehen will, muss man sich vor allem mit den Grundelementen seiner Theorie, dem historischen Materialismus auseinandersetzen, der in „Die deutsche Ideologie“ intensiv ausgearbeitet wurde. Der historische Materialismus erscheint als Knackpunkt in der marxistischen Wissenschaft. Entsprechend viel wurde er diskutiert und in unterschiedlicher Weise auszulegen und anzuwenden versucht, was zu einer breit gefächerten Diskussion unter Marxisten und Marxistinnen, Vulgärmarxistinnen und -marxisten sowie Antikommunistinnen und Antikommunisten führte, die alle versuchten, den historischen Materialismus so darzustellen, wie sie ihn für ihre Ideologie und Politik brauchten. Auch unterschiedliche Marxistinnen und Marxisten sind sich über die Entwicklung des historischen Materialismus bei Marx und Engels nicht einig. Uneinigkeit besteht insbesondere in der Frage darüber, in welcher ihrer Schriften der Ursprung dieser Entwicklung zu suchen ist und ob Hegel oder Feuerbach ihre Grundlage bildet. Viele sehen einen großen Einfluss der Theorie Feuerbachs auf Marx und Engels, insbesondere des Buches „Das Wesen des Christentums“, in dem Feuerbach seinen Sinnlichen Materialismus darstellt und Religiosität entschieden ablehnt. Von Feuerbach zu lösen begannen sich Marx und Engels während ihrer Arbeit mit den Deutsch-Französischen Jahrbüchern. Von Feuerbachs wenig definiertem Bezug zum Diesseits gingen sie dazu über, die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse ins Zentrum des Materialismus zu stellen und damit vom Sinnlichen zum historischen Materialismus voranzuschreiten (Bloch 1968, 56ff). Andere wiederum lehnen den Einfluss Feuerbachs ab und sehen den Ursprung des historischen Materialismus in Hegels Philosophie, deren dialektische Methode sich durch sein gesamtes Werk ziehe (Reichelt und Fetscher 1973; Krahl 1970; Mensching 1970). Marx und Engels schrieben in der „Deutsche [n] Ideologie“ und anderen Schriften teilweise auf einer ironische Art und Weise. Diese Ironie wurde häufig von den Vulgärmarxisten nicht verstanden und als ernst dargestellt. (Hall 2004, S. 10)