Polyamorie, Emanzipation oder Entfremdung

Das theoretische und praktische Erforschen der Polyamorie als eine Form der Verwandtschaft in unserer gegenwärtigen Gesellschaft

1.Einleitung

Polyamorie ist eine aktuelle Debatte und eine Form der Verwandtschaft, die gerade nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern häufig diskutiert oder ausgelebt wird. Meine Fragestellung, basierend auf wissenschaftlichen Untersuchungen, ist die Untersuchung des Themas Polyamorie und das Erforschen der theoretischen Widersprüchlichkeit der Beteiligten, die diese Form der Beziehungen ausführen. Ich bin auf das Thema gekommen, weil in meinem privaten Umfeld das Thema häufig zur Debatte steht und es teilweise als „Alternative“ zur bürgerlichen Monogamie empfohlen wird. Es entwickelte sich bei mir die Vermutung, dass die meisten von denen, die von der Polyamorie reden, sich weder mit der Geschichte der Entwicklung der Monogamie beschäftigt haben, noch eine richtige Vorstellung von der Polyamorie und der „freien Liebe“ haben. Ich kam zum Entschluss, mich sowohl theoretisch als auch in der Praxis mit dem Thema auseinandersetzen. Persönlich habe ich selbst für einige Jahre in offenen Beziehungen gelebt, ohne sie als Liebe zu bezeichnen. Meine Beziehungen waren oft Fernbeziehungen, deswegen hatte ich mit meinen Partnerinnen ausgemacht, offene Beziehung zu führen und uns nicht auf einander zu verlassen. Diese Beziehungen waren für mich und für die Frauen mit denen ich Sexualität auslebte, weder Polyamorie noch Liebesbeziehung. Es gab bestimmte Abhängigkeiten, die ich nicht als Liebe bezeichnen kann. Mein Forschungsfeld konzentriert sich auf den Polytreff Rhein-Neckar in Ladenburg sowie auf eine Vielzahl weiterer Menschen, die ich im Laufe meiner politischen Tätigkeiten sowie dem Studium, kennenlernen durfte. Bevor ich zum ersten Mal persönlich zum Polytreff in Ladenburg gegangen bin, hatte ich mit zwei Personen, die sich in dieser Richtung bewegt haben, ein Interview geführt. Nachdem ich durch die Interviews grundlegende Informationen sammeln konnte, hat mich eine der beiden Befragten zum Polytreff begleitet. Da ich zwei der Organisatoren des Treffens persönlich kenne, war es mir möglich, die Teilnehmer ausführlich und lange zu befragen. Das Interview wurde von allen Beteiligten sehr ernst genommen und ermöglichte mir die genaue Beantwortung meiner vielfältigen Fragen. Bei den Interviews handelt es sich um mündliche Befragungen. Die Antworten wurden von mir aufgeschrieben und die wichtigsten Aspekte in transkribierter Form dieser Arbeit beigefügt. Die Identität der Befragten wurde nach ethisch-wissenschaftlicher Schweigepflicht geschützt. Die folgende Arbeit beschäftigt sich mit dem Themenkomplex der Liebe, der „freien Liebe“, dem Konzept der Freiheit von marxistischer und liberalistischer Perspektive sowie der Polyamorie.

In dieser Arbeit wird zunächst versucht, Polyamorie als eine Form der Beziehung, die unter anderen Formen der Beziehung und der Sexualität in unserer Gesellschaft existiert, zu erklären. Anschließend nehme ich Bezug auf meine eigene Forschung in der Region Rhein-Neckar und dem Polytreff in Ladenburg, um meine persönliche Analyse zur Polyamorie zu erläutern.

 

Polyamorie als Begriff ist neu und wurde seit den 1990er Jahren von „Sex-positiven FeministInnen“ geprägt, die die parallele Führung von mehreren Beziehungen, sowohl in sexueller sowie auch im Hinblick auf Liebesbeziehungen, beschreibt. Vorrausetzung dafür ist, dass alle Beteiligten von dieser Art der Beziehung wissen. (Boehm 2012, S. 7)

Polyamorie als sexuelle oder „Liebesbeziehung“ ist und war an sich nicht neu. Die Anarchie in der Sexualität und Vielweiberei oder auch Vielmännerei und teilweise „Viel-Partnerschaft“ gab und gibt es schon immer, obwohl dies in vielen Gesellschaften weder „moralisch“ noch gesetzlich akzeptiert wird. Fremdgehen ist meiner Meinung nach nichts anderes als Polyamorie.

Engels hat in seinem Werk „Ursprung der Familie“ mit dem Bezug auf die Forschung von Lewis Henry Morgan (1818-1881) und teilweise Johann Jakob Bachofen (1815-1887) eine dialektische Analyse der Entwicklung von der Verwandtschaft und Formen der Familie aufgedeckt, die es bei den „Evolutionisten“ nicht gab. Engels kritisiert im Vorwort seines Buches die englische Schule und schreibt:

„Ich habe also den ganzen Text einer sorgfältigen Durchsicht unterworfen und eine Reihe von Zusätzen gemacht, wodurch, wie ich hoffe, der heutige Stand der Wissenschaft gebührende Berücksichtigung gefunden hat. Ferner gebe ich im weitern (weiteren) Verlauf dieses Vorworts eine kurze Übersicht über die Entwicklung der Geschichte der Familie von Bachofen bis Morgan; und zwar hauptsächlich deswegen, weil die englische chauvinistisch angehauchte prähistorische Schule noch fortwährend ihr möglichstes tut, die durch Morgans Entdeckungen vollzogne Umwälzung der urgeschichtlichen Anschauungen totzuschweigen, wobei sie jedoch in der Aneignung von Morgans Resultaten sich keineswegs geniert. Auch anderwärts wird diesem englischen Beispiel stellenweise nur zu sehr gefolgt.“ (Engels 1975, S. 211)

Engels kritisierte die Analyse von McLennan über die Exogamie und Endogamie von Stämmen und war der Meinung, dass diese Analyse mehr von der Mythologie als von der Wissenschaft beeinflusst ist. Der Ausgangpunkt für Engels waren die Schriften von Morgan, besonders sein Werk „Ancient Society” (1877). In dieser Analyse, wurde durch den Vergleich und die Erforschung der Familie in den USA und zwischen amerikanischen Indianern, eine universale Form der Entwicklung der Familie in anderen Kontinenten bewiesen.

Die Formen der Familie veränderten sich im Laufe der Zeit und nach der Überlegung von Engels, ist die Morgans Beschreibung von der Familie als „Paarungsfamilie“ als widersprüchlich anzusehen. In Bezug auf Morgans Forschung zeigt Engels diesen Widerspruch. Morgan selbst wurde von einem Stamm (Senekas) adoptieret und wurde von dieser Familie akzeptiert und auch als „Sohn“ bezeichnet. Die Paare von diesem Stamm in New York nannten die Kinder ihres Bruders auch Söhne und Töchter. Die Kinder der Schwester werden aber Neffen und Nichten genannt. Engels ist der Meinung, dass diese Form der Familie, was wir als Verwandtschaft bezeichnen, auch zwischen anderen Völker existierte und manchmal gab unterschiedliche Bezeichnungen für die Verwandtschaft.  (Engels 1975, 36ff)

„Familie“ ist ein komplexes System und eine Form von Institution in der Gesellschaft und darf nicht auf die „kleine Familie“ reduziert werden. In dieser Arbeit versuche ich die Komplexität der Familie und Erweiterungen der Beziehungsformen in der Gegenwart in Zusammenhang mit meiner Feldforschung über Polyamorie zu präsentieren und zu zeigen, wie die polyamouröse Beziehung als eine anarchische Form der Beziehung, die Strukturen der kleineren Familie (Vater, Mütter, Kinder) in Frage stellt und durch die Anarchie in der Beziehung nach Emanzipation sucht.

Die wichtigen Analysen, die ich für meine Arbeit benutze, beziehen sich nicht auf die kapitalistischen moralischen Wertvorstellungen, sondern auf eine emanzipatorische befreiende Art der Moral, die die kapitalistische Werten in Zusammenhang mit der Familie und Sexualität wiederlegt und die Emanzipation der Menschen als zentrale These benutzt.

In diesem Zusammenhang akzeptiere ich die Emanzipation der Menschen und der Frauen als Hälfte der Menschheit und ihre freie Entscheidung in der Sexualität nicht nur, sondern unterstütze dies auch. Das bedeutet aber nicht, dass ich unterschiedliche Arten des Sexismus und der Entfremdung der polyamourösen Menschen rechtfertige oder nicht kritisiere. Ich bin jedoch der Meinung, dass jede Form der Entfremdung und Objektivierung des Körpers der Frauen auf einer sexistischen Art kritisch hinterfragt werden muss.

Polyamouröse Menschen dürfen nur von der Emanzipation der Frauen oder der Subjekte reden, wenn sie in der Praxis die bestehende Ordnung des Kapitalismus, die durch Verdinglichung der Frauen als Sexobjekte auf einer politischen Ebene bekämpfen wollen, anstatt die bestehende Ordnung durch passive Kritik auf andere Weise zu reproduzieren.

Die Moral und die Liebe werden auch in dieser Arbeit aus einer philosophischen sowie einer ethnologischen Perspektive bearbeitet.

Die ganze Arbeit können Sie hier herunterladen und lesen: Polyamoriepolyamorie-sign-300x300

2 thoughts on “Polyamorie, Emanzipation oder Entfremdung

  1. Ein sehr interessantes Werk, was Sexualität und das Empfinden der sexual gesteuerten Liebe im Kontext der Emanzipation zu erklären versucht. Keine so einfache Kost für einen Laien wie ich, jedoch interessant.

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